Samstag, 2. Mai 2015

Über die Widerspenstigkeit der Erinnerung


Mitunter spürt man, wie das Vergessen (gleich dem Nicht-Wissen) auch seine nötigen und heilsamen Seiten hat. Das ist nur ein Nebengedanke, der mir beim Lesen eines im übrigen sehr verdienstvollen Buches, das Herr Busse (Erinnerungen an Maria Wandelt, Herausgegeben von Gerhard Busse, Rodenskrug 2014), ein enger Freund der Genannten, kürzlich herausgebracht hat, und dem auch ich meinen nachrangigen Beitrag beisteuern durfte. Er kam überraschenderweise am 1. Mai selbst vorbei, um es mir zu geben, was mich sehr rührte.

Dem Buch ist abzuspüren, wie er mit seiner Erinnerung ringt, denn die Beiträge der Gastautoren sind gewissermaßen eingrahmt von einer (starken) biographischen Deutung am Beginn und einer teilweise verstörenden Reflexion der letzten Jahre. Mein eigener Text war, nachdem er auf dessen Vorläufer an diesem Ort gestoßen war, nur eine Erweiterung desselben. Ich habe mich nun doch entschlossen, diesen hier ebenfalls mitzuteilen, eigentlich fast nur eines Satzes wegen.

Denn in der Tat, angesichts von verrenkten, aus dem Lot geratenen Zeiten, die oft wie ein Alp auf einem liegen können, war ihr Beschwören von Vergangenem, ihr Bekanntmachen mit alter Schönheit, mit Dichtung, mit jahrhundertegesättigter Weisheit, ihr tapferes Postulieren einer geistigen Höherentwicklung der Menschheit hin zu einem „kosmischen Bewußtsein“, ja selbst ihr besonderes „Märchenerzählen“ eine Art von ruhelosem Schamanengesang inmitten dunkelster Nacht.


Maria Wandelt oder Im Bergwerk der Jugend

Es hat etwas Beklemmendes, sich an lange Zurückliegendes zu erinnern, vor allem, wenn es die eigene Jugend betrifft; mit ihrer Mischung aus falschen Leiden und hochfahrenden Hoffnungen.

Man stelle sich einen jungen Menschen von vielleicht 17 Jahren vor, der mitten im Nirgendwo aus einem Überlandbus steigt und, man stelle sich zudem Nieselregen vor, über einen langen Feldweg und ein Dorf und nochmal einen Weg entlang im Dorf Grünow ankommt, bei einer respektablen älteren Dame, zwischen lauter Möbeln, von denen die jüngsten 150 Jahre erfahren haben mochten, und zu denen die alte, wenn auch solide gebaute Bauernkate so gar nicht passen mochte, um mit hoher, wohl akzentuierter Stimme enthusiastisch empfangen zu werden: „Ich grüße Sie!“.

Es ist mühsam, sich in diese Erinnerungen vorzugraben, und noch schwerer, überraschenderweise aufgefundene Zeugnisse (ein paar Briefe, Bilder) damit in Verbindung zu bringen, ja überhaupt dem Menschen näher zu treten, der man wohl einmal war. Die (wenigen erhaltenen) Briefe hatten vor allem einen banalen Anlaß, es gab kein zugängliches Telefon, man hatte sich schriftlich zu verabreden. Gefühlt, als reiche die Jugend bis ins 19. Jahrhundert, auch aus anderen Gründen, doch dazu später.

Die Erinnerung ist seltsam. Sie erschafft ein unscharfes Panorama aus Stimmen, Bildern, Gefühlen, Gedanken, ein Geflecht, das wie Jahresringe einen Baum ausbildet. Sie hat Bäume sehr geliebt. Als wir wieder durch die unwegsamsten Winkel des umliegenden Waldes stapften, erklärte sie mir einmal, das Geräusch, wenn ein alter Baum gefällt würde, das sei in Wahrheit ein Schrei. Und dazu etwas rezitiert, das mir gerade nicht einfallen will. Und sie hat Gruselgeschichten geschätzt, die sie dramaturgisch gekonnt vorzutragen wußte, um sich anschließend am meisten davon zu fürchten.


Als pensionierte Kinderpsychologin hatte sie auf ihre späteren Tage noch die Katechetin gegeben und galt in diesem speziellen „Kolleginnen“- Milieu (meine Frau Mutter war selbst eine) für eine leicht schrullige, aber unterhaltsame „Märchentante“. Auf Jugendfreizeiten war sie ein gern gesehener, auch verehrter Gastredner (so habe ich sie zuerst kennengelernt).

Tatsächlich, so stellt sich heraus, war ihr „Märchenerzählen“ eine Einführung in die Tiefenpsychologie und die Psychogenese der Menschheit und vieles weitere. Anstatt, daß sich die vielleicht 15 - 18jährigen überfordert gezeigt hätten, was sie zweifelsohne waren, genoß sie schlicht „Kultstatus“, was merkwürdig bleibt.


Man blicke nur auf diese Bruchstücke aus einem Vortrags-„Manuskript“ (das sie mir überlassen hatte): „Plotin: Die Menschheit befindet sich auf halbem Wege zwischen den Göttern und den Tieren.“ „Teilhard de Chardin: Die Zukunft der Menschheit heißt kosmisches Bewußtsein.“ „Ernst Cassirer: Aus Lösung und Differenzierung aus der Bindung des Körpers an die primitive Natur das 'Ego'... weltweite Tradition des Sündenfalls, Naturmythen, frühe Sprachformen, Totemdenken, Rituale...“

„Jede Stufe der Evolution geht über den Vorgänger hinaus, zieht sie aber in ihre eigene höhere Ordnung ein, somit transzendiert + umfaßt sie alle vorhergehenden.“ „Der Mensch trägt also alle früheren Stufen der Evolution, die er jedoch alle transzendiert.“ „4 Bewußtseinsstufen: Archaische, magische, mythische, mentale Welt...

Die Geschichte des menschlichen Bewußtseins war das schrittweise Herauslösen eines kleinen, jedoch wachsenden + zunehmend klareren + selbstsicheren Kerns innerer menschlicher Erfahrung aus einem traumhaften Zustand buchstäblicher Identität mit dem Körper und seiner Umwelt.

Der Mensch muß seine Subjektivität der Welt seiner Erfahrung buchstäblich abringen, indem er diese Welt nach + nach zu einem Dualismus polarisierte: objektiv – subjektiv, äußerlich – innerlich...“ „Befreiungsversuche des magischen Menschen aus der Eingeflochtenheit + Gebanntheit in die Natur... hier wird der Mensch zum Macher... Ritual erste Kontrolle über die Welt...“

„Mythische Periode… Ausweitung der Gedanken auf Zukunft... Überbrücken von Zeiteinheiten... Mensch... wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt... allgemeine Ergriffenheit vom Tode.“ „Wo immer es ein eigenes Ich gibt, da gibt es auch Angst.“

Wir brechen hier ab. Man hat vielleicht einen Eindruck gewonnen. Angst, hm. Ich habe lange nicht gewußt, daß wenige Jahre vor ihrem Tode noch ein Buch veröffentlicht wurde, mit einer Auswahl ihrer Märchen - "Liebe kleine Ratte - Märchen erzählt von Maria Wandelt". In ihrem kurzen Nachwort schreibt sie selbst, auch in ihrem Buch sei die Gruppe der Erlösungsmärchen groß (ein sehr schönes darin lautet „Vom Werwolf, der eine Königstochter heiratete – Märchen aus Schweden“).


Und wenn ich meine Erinnerung genau befrage, ja, sie war oft von Angst und Sorge erfüllt, gerade um die, denen sie sich nahe sah (allerdings waren es auch wahrlich verrenkte, aus dem Lot geratene Zeiten, die oft wie ein Alp auf einem lagen). Und irgendwie hatte ihr Beschwören von Vergangenem, ihr Bekanntmachen mit alter Schönheit, mit Dichtung, mit jahrhundertegesättigter Weisheit, ihr tapferes Postulieren einer geistigen Höherentwicklung der Menschheit hin zu einem „kosmischen Bewußtsein“, ja selbst ihr besonderes „Märchenerzählen“ etwas von einem ruhelosen Schamanengesang in dunkelster Nacht. 

Wir können unser Glück nicht hoch genug schätzen, wenn wir in den Zeiten, in denen unser Gemüt am aufnahmebereitesten und zugleich auch am ungeschütztesten ist, folglich in unserer Jugend, „überfordert“ werden, also in eine ganze Welt eingeführt, von Bildung, von komplexesten Gedanken, von Ermutigung, von Tradition, von Vertrautheit mit überkommenen Dingen, von Integrität, von vergeistigter Anmut, und das alles durch eine würdige, lebhafte, gedankensprühende, manchmal fast mädchenhafte ältere Dame. Und welches tapfere Vertrauen von ihrer Seite, daß all dies nicht vergeblich sei, und wieviel Geduld dabei.

Ich durfte an einem solchen Glück teilhaben. Sie hat mich in meinen zweifelhaften literarischen Versuchen ermutigt und in manch anderem. Sie hat versucht, mir zu erschließen, wie aus Märchen die Tiefe archetypischen Wissens aufsteigen kann. Sie hat mir eine Ahnung davon verschafft, welche Welt mit dem letzten Krieg verlorengegangen ist, als hätte sie mir auf ihrer flachen Hand etwas gezeigt, das Geruch, Anmutung und Aussehen dieser Welt für einen lang andauernden vergänglichen Moment aufscheinen ließ, so daß ich wußte, es ist noch real, irgendwo.

Sie hat mir die Augen dafür geöffnet, wie wir, wenn wir das Geistige in uns nicht pflegen, bewahren und vermehren, als Mensch innerlich absterben, und daß es immer eine Möglichkeit gibt, diesem zu widerstehen und in diesem Widerstehen unser inneres Selbst zu finden und zu behaupten, ein Selbst, das eingebunden ist in etwas Größeres.


Ich hatte sie seit November 1989 (nicht ganz freiwillig) zunehmend aus den Augen verloren, so daß mich die Nachricht von ihrem Tod 1995 spät erreichte. Aber es ist nicht wahr, daß die Dinge von ihrem Ende her gültig sind. Ein Ende kann täuschen und auf Gründen beruhen, die ebenfalls lange zerfallen sind. 

Diese über mehrere Jahre andauernden Zusammenkünfte jedoch und nächtelangen Dispute, haben unauslöschbare Spuren in mir hinterlassen, im besten denkbaren Sinne. Ich wäre ohne Maria Wandelt heute ein anderer Mensch, des bin ich mir gewiß... 


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Tiefenpsychologie", "kosmisches Bewußtsein", "geistige Evolution",...: Soll man das ernstnehmen?

MartininBroda hat gesagt…

@Anon Wenn aus dem Sein ein Sollen folgen muß, hängt das wohl u.a. daran, welche Sicht „man“ auf die Dinge hat. Beim mystischen Evolutionismus eines Pierre Teilhard de Chardin bin ich eher skeptisch, aber unfertig in meinem Urteil.
In Frage zu stellen, daß „Tiefenpsychologie“ einen realen Gegenstand hat, ist natürlich zulässig, so wie es auch erlaubt ist zu behaupten, daß die Erde in Wahrheit hohl sei.