Montag, 25. Juni 2012

Über Gotik

Wenzel Hollar,  Lincoln Cathedral from the west.

Herr Chesterton, mit dem ich mich kürzlich flüchtig beschäftigte, hat sich auch ganz eigentümlich betörend über die Gotik geäußert. Auf den ersten Blick erscheinen seine Bemerkungen über die „eigenartige Größe der gotischen Architektur“ wie purer Nonsens, aber sie ergeben ein Bild von ganz besonderer Lebendigkeit, vor der die eigenen Gedanken eher zurückschrecken. Denn was wären die dürftig üblichen?

Ein Rekurs darauf, daß sie in Nordfrankreich entstanden sei, der Chorneubau von Saint-Denis, geweiht 1140, der burgundische Spitzbogen habe sich mit dem normannischen Kreuzrippengewölbe verbunden, so daß man die massiven Wände aufzulösen in der Lage war, gestützt von Strebepfeilern, aufgelöst zu Wänden aus Licht im Ideal.

Ein anderer beliebter Hinweis wäre, daß das christliche Abendland den Spitzbogen tatsächlich von den Muslimen (deren Fähigkeit zur Innovation übrigens gern extrem überschätzt wird) übernommen habe, vermutlich über Spanien. Mag sein als Konstruktionselement, er erlaubt etwa den Bau von Bögen mit unterschiedlichen Spannweiten bei gleicher Scheitelhöhe, aber das ist es dann auch.

Wir haben erstaunlicherweise keine zeitgenössischen Zeugnisse, die den Wechsel reflektieren, der sich innerhalb weniger Jahrzehnte über das damalige Europa ausbreitete. Es ist schwer ergründbar, wie auf einmal ein derart anderes geistiges Wollen entstand. Doch wir haben die Zeugnisse dieser steingewordenen Mystik. In ihren stärksten Zeugnissen, den überirdisch durchleuchteten Wänden, den Räumen, denen keine Grenze gesetzt zu sein scheint, den Türmen, die jeden Augenblick den Himmel berühren werden, erscheint sie wie die Selbstaufhebung der Wirklichkeit hinein in Gott.

Die Italiener haben sie sich nur widerwillig angeeignet, aber sie bricht ja auch mit allem Formwillen, der aus der Antike heranreicht und später wieder aufgenommen werden sollte. „Gotisch“ als Synonym für „roh“ und „barbarisch“ stammt von ihnen und ein Tuccio Manetti behauptete, die eingefallenen Germanen hätten die antike Baukunst verdorben, daher nannte man die neue Architektur auch „maniera tedesca“ oder „stilo gotico“, wo sie doch die Franzosen erfunden hatten. Aber all dies sind Glossen und wir beenden sie, um Herrn Chesterton zu Wort kommen zu lassen.

Lincoln Cathedral from the south.

„Man behauptet, daß die Gotik die Klassik durch einen bestimmten Reichtum und eine Vielfalt verdunkelt, die ebenso lebhaft wie rätselvoll sei. Das stimmt, aber das Schmuckwerk des Orients ist gleichermaßen reich und vielgestaltig, ruft aber doch ein ganz verschiedenartiges Gefühl wach. Bei niemandem rief ein Smyrnateppich je die Gefühle hervor, die ein gotischer Münsterturm in ihm anregte. Den ausgesuchtesten Ornamenten Arabiens und Indiens wohnt etwas Steifes und Herzloses bei, etwas, was gequält und gemartert wurde und schweigt.“

„Einige Kritiker haben sich so seicht und ungebildet gezeigt, zu behaupten, daß unsere Freude am mittelalterlichen Bauwerk nichts als Freude am Barbarentum sein, an allem, was plump, gestaltlos und dabei zerklüftet wie Felsens sei. Das kann auf gleiche Weise widerlegt werden: Südseegötzen mit gemalten Augen und strahlenden Borsten sind für das Auge entzückend, aber sie beeindrucken nicht in gleicher Weise wie die Westminster Abbey.“

„Ja ich selbst sah nicht, was der entscheidende Punkt der Gotik war, bis ich nach Lincoln kam und den Dom hinter einer Kolonne von Möbelwagen erblickte... Eine niedrige Steinmauer schnitt die Ränder vor mir ab, und die Wagen zeigten ungefähr die gleiche Farbe wie der gelbliche Ton oder Stein der Gebäude ringsum. ...gerade vor mir war ein blühender Küchengarten, strotzend von weichen Farben, dahinter lag die niedrige Steinmauer, wieder dahinter die Kolonne der Möbelwagen, die wie Häuser aussahen, und ganz hinten und über alldem aufrecht, schnell und dunkel, leicht wie ein Schwarm Vögel und schrecklich wie der Turm von Babel – so stieg der Dom von Lincoln in die Höhe über jedes menschliche Blickfeld hinaus.“

„Was war die Seele, das Lebendigmachende in dem ganzen steinernen Bauwerk?“

„Unvermutet setzten sich die Möbelwagen, welche ich die ganze Zeit für Häuser gehalten hatte, nach links in Bewegung. Im ersten Augenblick führte das für Auge und Verstand zu der Täuschung, daß sich die Kathedrale nach rechts bewege. Die zwei hohen Türme schienen über die Ebene zu schreiten wie die zwei Beine eines Riesen, dessen Leib von den Wolken verdeckt war. Dann erst sah ich, was es war.

Von der Gotik darf man sagen, erstens, daß sie lebendig, und zweitens, daß sie auf dem Vormarsch ist. Sie stellt die streitende Kirche dar, und sie ist die einzige kämpferische Architektur. Alle Kirchturmspitzen sind Speere im Ruhezustand, und alle ihre Steine schlafen noch friedlich auf dem Katapult. Im Augenblick der optischen Täuschung konnte ich die Bogen, wie sie sich kreuzten, gleich Schwertern zusammenschlagen hören. Die zahllosen mächtigen Säulen schienen gleich mächtigen Beinen für den Kaiser geschmückter Elephanten vorbei zuschaukeln. Das geschnitzte Blattwerk wand sich zu Kränzen, die wie in die Schlacht ziehende Banner flatterten.

Die Stille wurde jetzt durch viele sich miteinander vermengende Geräusche militärischen Vormarsches zu ohrenbetäubendem Lärm - die große Glocke schickte ihren Donner herab und die Orgel den ihren hinauf. Die Wasserspeier mit durstigen Kehlen ertönten wie Trompeten von allen Dächern und Zinnen, als sie vorüberzogen, und vom Chorpult in der Mitte des Doms schlug der schreckenerregende Adler des Evangelisten heftig mit seinen Messingschwingen.“

„Ich konnte mir in dem Augenblick fast vorstellen, daß dieses Haus des Lebens so, wie es stand, eines Tages aus dem heiligen Osten aufgebrochen war, ineinander verschränkt und doch lebendig, wie eine Streitmacht. Ein Nomade war darauf gestoßen und und hatte es fest und ruhig im roten Wüstensand stehend vorgefunden. Er hatte sich daneben wie an einer weltvergessenen Pyramide niedergelegt und war um Mitternacht erschreckt aufgefahren von dem Schlagen der Flügel aus Stein und Messing, vom Getrampel der hohen Pfeiler, von den Trompeten der Wasserspeier.“

„Und die kühn gemalten Heiligen, die auf ewig auf den flammenden Fenstern dahinziehen, könnten ihre Heilgenscheine wie Fackeln durch finstere Lande und über ferne Meere getragen haben, bis der ganze Berg aus Musik, Dunkel und Lichtern dröhnend auf den einsamen Domberg von Lincoln hinabgestiegen war. So sah ich drei Minuten lang die Kampfesschönheit der Gotik, dann schob sich der letzte Möbelwagen hinweg, und ich sah nur noch einen Kirchturm in einer verschlafenen englischen Stadt, um den die Vögel kreisten.“

Lincoln Cathedral, interior.
nachgetragen am 27. Juni

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