Samstag, 27. Juni 2009

Über das Böse in der Geschichte

Die Schuld am 1. Weltkrieg, diesem von allen Seiten mit so grausamer wie sinnloser Erbitterung geführten Krieg, Urkatastrophe der europäischen Geschichte in den letzten 100 Jahren (der Begriff stammt ursprünglich von dem amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan „the great seminal catastrophe of this century“), ist auf alle Beteiligten ziemlich gleichmäßig verteilt. Sie war offenkundig so unerträglich, daß die Sieger unverzüglich begannen, sie auf die Besiegten abzuwälzen, schlimmeres.

Am 28. Juni 1919 wurde im Spiegelsaal von Versailles etwas unterzeichnet, für das einen das Wort „Friedensvertrag“ nicht über die Lippen kommen mag. Den unterzeichnenden Deutschen waren fünf Soldaten mit schwersten Gesichtsverletzungen, ohne Augen, Nase oder Mund gegenübergesetzt worden. Warum? Dieser Vertrag hatte einen Hauptzweck, den Gegner zu erniedrigen, ihn, da man ihn nun nicht ganz aus der Welt schaffen konnte, wenigstens soweit zu schwächen als irgend möglich und ihm dazu den zivilisatorischen Rang, die Zivilität, die Würde abzusprechen, ihn einfach zum Verbrecher zu stempeln.

Dieser „Vertrag“ war der moralische Bankrott Frankreichs, auch anderer (man mag zur Ehrenrettung der USA anführen, daß der Kongreß ihn nichtratifiziert hat), aber Frankreichs vor allem. Und er war so dumm, ein prächtiger Humus für das Böse, ein Drehbuch für das nachfolgende Grauen. Wenn man jemanden mit Gewalt zum Verbrecher macht, dann wird dieser, wenn er zu schwach oder nicht ehrenhaft genug ist, nach der ersten Empörung irgendwann gleichgültig oder sich skrupellos irgendwann genau so verhalten, viele im Deutschland dieser Zeit waren schwach, einige nicht ehrenhaft, unglücklicherweise haben letztere irgendwann die Herrschaft in Deutschland an sich gerissen.

Zu den moralischen Folgen treten die materiellen hinzu, der Vertrag heizte die bald folgende Weltwirtschaftskrise an, die Millionen ins Elend stürzte und sie orientierungslos machte. Die Wirkungen sind bekannt.

Mich hat ein für heutige Verhältnisse halbwegs vernünftiger Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu diesen Anmerkungen veranlaßt. Sie sind kein Thema für einen Sonntag und daher schon heute zu finden. Warum ? Angesichts des Grauens, das dann wenige Jahre später folgte, hört man oft die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Ohne daß es wirkliche Antworten zu geben scheint. Eine, weiß Gott nicht die einzige, aber eine ganz schwerwiegende, ist im Spiegelsaal von Versailles zu besichtigen.

8 Kommentare:

MartininBroda hat gesagt…

About the evil in history
translation

The guilt on World War I - this with such a cruel and senseless bitterness waged war, the quintessential European catastrophe of the 20th century („the great seminal catastrophe of this century“, George F. Kennan) - is distributed fairly evenly on all parties. It was obviously so unbearable that the winner immediately started to shift the blame on the losers, it’s even worse.

On June 28th 1919 was signed something in the Hall of Mirrors at the Palace of Versailles for which the word "peace treaty" don’t cross my lips. The German signatories were faced by five soldiers with serious facial injuries, without eyes, nose or mouth. Why? The main purpose of his contract was to humiliate the enemy and, since you could not get him completely out of the world, at least to weaken him so much as possible and to debase his rank of civilization, deny his dignity, just make him a criminal.

This "contract" was the moral bankruptcy of France, also of others (we have to say the U.S. Congress refused to ratify), but mainly of France. And it was so stupid, a beautiful humus for the evil, a scenario for the subsequent horrors. If you call someone a criminal with a lot of effort, then, if he is too weak or not honourable enough, after the initial outrage he may act indifferent or unscrupulous sometime exactly the same way he is accused before, many in Germany in this time were weak, some not honourable, unfortunately the dishonourable came to rule later in Germany.

The moral implications are soon followed by material results, the contract aggravates the soon following global economic crisis that plunged millions into poverty and made her disoriented. The effects are well known.

A halfway reasonable article in the “Süddeutsche Zeitung” causes these comments today. It’s not a topic for Sunday and therefore already found today here. Why? Considering the horror a few years later, one often hears the question: How could this happen? And it seems that there is not really an answer. One, God knows, not the only, but a very serious one, is to visit in the Hall of Mirrors at the Palace of Versailles.

Anonym hat gesagt…

In der Tat haben die Alliierten - aktiv Frankreich, passiv die USA und Großbritannien - das Emporkommen und den großen Erfolg der Nazis beflügelt. Obgleich das sicher nicht beabsichtigt war, wäre es zumindest von heutigem Standpunkt aus vorhersehbar gewesen (genauso wie wir jetzt wissen, dass wir z.B. im Falle Nordkoreas die Führung nicht durch Sanktionen schwächen, sondern eher stärken und die Bevölkerung darunter am stärksten leidet - ebenfalls wie beim Versailler Vertrag). Die Frage, ob es damals für die Siegermächte absehbar war, dass Deutschland mit dem Versailler Vertrag nicht nur nicht geholfen ist, sondern dass es dadurch möglicherweise zu einem totalitären Staat wird, ist wohl immernoch offen.

Nichtsdestoweniger war der sogenannte Friedensvertrag, wie du schon sinngemäß sagtest, eine Farce.

Mr. Urs hat gesagt…

Martin, Du hast mich wiederum dazu bewegt, ein Buch aus dem Gestell zu nehmen, um ein paar Gedanken in Erinnerung zu rufen. Diesmal ist es 'A History of Warfare' von John Keegan. Er ist kein Freund von von Clausewitz (wofür er oft und gern von anderen Militärhistorikern kritisiert wird). Keegan wirft von Clausewitz vor, wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass es zu den Weltkriegen kam. Hier ein kleiner Ausschnitt aus den Conclusions, über die Folgen des clausewitzschen Denkens, das Keegan auch "Western way of warfare" nennt:

"The triumph of the Western way of warfare was, however, delusive. Directed against other military cultures it had proved irresistible. Turned in on itself it brought disaster and threatened catastrophe. The First World War, fought almost exclusively between European states, terminated European dominance of the world and, through the suffering it inflicted on the participant populations, corrupted what was best in their civilisation - its liberalism and hopefulness - and conferred on militarists and totalitarians the role of proclaiming the future. The future they wanted brought about the Second World War which completed the ruin initiated by the First. It also brought about the development of nuclear weapons, the logical culmination of the technological trend in the Western way of warfare, and the ultimate denial of the proposition that war was, or might be, a continuation of politics by other means.
Politics must continue; war cannot."

Ich denke, die Tragik des "Friedensvertrags" war, dass er von den Siegern benutzt wurde, den Krieg mit anderen Mitteln fortzusetzen.

MartininBroda hat gesagt…

Erst einmal vielen Dank an euch beide, daß ihr euch meinen emotionalen Ausbruch angetan habt, der wirklich ungeplant war und jetzt im Moment wahrscheinlich nicht stattfinden würde. Er war wirklich von diesem Artikel ausgelöst, so ungefähr wie, ja? Ach du Schreck, tatsächlich, schon 90 Jahre. Ich hab mich dann anschließend nur mit der Übersetzung etwas abgemüht, damit das nicht in den völlig falschen Hals gerät.

Ich muß zur Erklärung vielleicht eines anfügen. Das soll nicht anmaßend klingen, aber ich denke eine Ahnung davon zu haben, was mit dem 1. Weltkrieg verlorengegangen ist, man kann das vielleicht mit der Epoche der Soldatenkaiser im 3. Jahrhundert vergleichen, wo das Beste des Römischen Reiches nahezu den Bach herunterging, nur dieses ist eben verdammt näher. Und eine der Fragen für mich ist eher, warum dieser Krieg, in dem man dann natürlich den Gegner aller zivilisatorischen Würde entkleiden muß, um weitermachen zu können, auf allen Seiten, das sei festgehalten? Ein Krieg für nichts.

Lunario, die Siegermächte wollten nicht helfen, sie wollten ihren Sieg rechtfertigen, ich fürchte nur, andersherum wäre es genauso gelaufen. Aber ich gebe zu, wenn wir uns über die Dämlichkeit unserer Vorfahren aufregen, es ist eine völlig andere Sache, dies aus der gegenläufigen Perspektive zu betrachte, diejenigen, die am 23. August 79 n. Chr. in Pompeji Geschäfte machten oder Ränke schmiedeten, wußten eben nicht, daß sie am nächsten Tag tot sein würden.

Tja und jetzt fächert sich mir erneut ein schweizerisches Persönlichkeitsspektrum auf, bei dem ich nur staunen und schmunzeln kann, aber das nur in Klammern. Ob nur der gute Clausewitz schuld ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht, die Folgen sind glänzend beschrieben und deine Schlußfolgerung stimmt natürlich exakt. Ich vermute, ich müßte nachlesen, Clausewitz kannte noch nicht diese moralischen sprich ideologischen Kriege. Krieg ist eh etwas Abgründiges (ich bin allerdings nicht der Experte), wenn dieser Abgrund dann noch moralisch aufgeladen wird, das hat wirklich etwas Finalisierendes.

Nochmals Danke.

naturgesetz hat gesagt…

It would be comforting to think that in 1945 the victorious Allies had learned the lesson of Versailles and its disastrous consequences. But more likely the milder treatment of Germany and Japan and the Marshall Plan were at least equally motivated by a desire to build up the West's defenses against Stalin.

MartininBroda hat gesagt…

Yes, unfortunately it is rare that people learn from history, often it is enough if they follow their own interests, but even this requires common sense.

naturgesetz hat gesagt…

A further though this evening about Kriegsverbrechen.

I don't know enough about who did what when in WWI to express any opinions about that conflict. But it has long seemed to me that both sides in WWII were clearly guilty of war crimes — especially in the bombing of enemy cities, which were clearly cases of attacks upon noncombatants. Certainly the bombing of London and other British cities fits the category. So does the allied firebombing of Dresden and many other German cities. Equally criminal were the raids on Tokyo and the atomic bombing of Hiroshima and Nagasaki. But when I tell American or British readers that I consider Harry Truman a war criminal for the bombing of Hiroshima and Nagasaki, the invariable reply is, "It saved [my/my father's/my uncle's/my grandfather's] life because I/he didn't have to land in Japan, where they were ready to fight to the death," as if it were legitimate to kill civilians in order to protect combatants. And if I accuse Churchill or Roosevelt, people invoke the concept of "total war" to try to claim that the entire German population were legitimate targets.

MartininBroda hat gesagt…

We agree of course and (even more as an American) your opinions are most honorable, but you have to pay attention to the fact that especially WWII dehumanized the minds of people so badly and it’s not over. My fear is our civilized behavior is a small founded habit, hopefully I’m wrong.

To make this less serious, if you want something to laugh at, look at my much fractured translation of my friends Thomas’ lecture