Donnerstag, 29. August 2013

Über die menschliche Natur

El Greco, "Laokoon"

Wieweit erschafft sich der Mensch inzwischen seine eigene Natur, inwieweit vermag er das überhaupt? In der Neuzeit sind die Einwände dagegen weitgehend weggeräumt worden. Aber als ich heute, einmal mehr mit deutlicher Verspätung, in den herumliegenden Zeitungen las, bekam ich eine Visualisierung davon, genauer gesagt, war es das Feuilleton der FAZ vom 14. August a.c. („Opfer des Schönheitswahns - Eine neue Mode?“). Wer einen schnellen Eindruck von dem gewinnen will, worüber ich zu sprechen versuche, der schaue sich diesen Artikel der Daily Mail näher an.

Ich denke gar nicht einmal, daß meine ästhetische Uhr im 19. Jahrhundert stehengeblieben ist, ich verehre Lehmbruck etwa sehr, und der hat die menschliche Physis bekanntlich entschieden „überdehnt“, und dann: El Greco! Die Zeit ist gelegentlich doch recht ephemer. Dennoch hat man das Gefühl, daß hier äußerlich vielleicht Verwechselbares aus völlig verschiedenen Beweggründen herrührt.

Es ist der Unterschied zwischen dem Die-Dinge-Verstehen-Wollen, gerade indem man sich ihnen auf entlegenen Wegen und von überraschenden Ausblicken aus nähert, oder anzunehmen, an keinen Maßstab, an nichts Vorfindbares mehr gebunden zu sein, außer dem der eigenen Phantasmagorien und überbordenden Vorstellungen, bis ins Fleisch hinein. Früher auf Jahrmärkten wurden Zwerge vorgeführt, heute sucht sich (fast) jeder (ist man versucht zu sagen) diesen Jahrmarkt selbst. Aber folgen wir ein wenig der Argumentation des Artikels.

Wilhelm Lehmbruck, "Der Gestürzte", 
photo by Oliver Kurmis, hier gefunden

Seien diese Exempel menschlicher Elementarzonen im Einzelnen schon verstörend genug, gäben sie in ihrem Zusammenspiel nur noch Rätsel auf. Wer die Maßstäbe der Durchschnittlichkeit anlege, fände nicht viel, was sich an ihnen orientiere. Natur liefere lediglich den Grundstoff für egal wie phantastische Manipulationen.

Der schnellen Behauptung von armen, verblendeten, schönheitssüchtigen Wesen träte der in London geborene Photograph Phillip Toledano so entgegen: „Viele waren gar nicht mehr interessiert an einer traditionellen Schönheit.“

Ihr Ideal hätten sie jenseits menschlicher Normen gefunden, in Katzenaugen oder den streng stilisierten Figuren japanischer Anime-Filme. Es seien ihre ganz eigenen Vorstellungen von Schönheit. „Eine posthumane Schönheit.“ Für Toledano seien sie Avantgardisten auf einer individuellen Schönheitssuche, die in ihren Anfängen stecke. Denn noch fehle die Technologie, um all die Phantasien zu verwirklichen und Metamorphosen herbeizuführen, um all die extremen Transformationsträume zu erfüllen.

Er frage sich: „Ist Schönheit dabei, sich in etwas anderes zu verwandeln? Könnten einige Leute unsere traditionelle Schönheit als unglaublich langweilig empfinden? Könnte es künftig geschmacklos sein, wie ein Mensch auszusehen? Könnte es als Zeichen von Armut verstanden werden?“ Und der Autor (des Artikels): „Die Antworten sind nicht in den Porträts zu finden. Ihre formalistische Strenge und marmorne Politur vor dunklem Grund umweht das Flair eines altmeisterlichen Handwerks, als wären die Holbeins ins Fotoporträtgeschäft umgestiegen.“ Den Porträtierten habe so viel klassische Zurückhaltung nicht immer gefallen.

Wer von ihnen mit Glamour und Sexiness gerechnet hätte, sei enttäuscht worden. Bei Toledano gehe es aber um die Entscheidungen, die wir treffen würden, um schön zu sein oder zu werden. „Durch den Menschen verursachte Evolution“ nenne er sein Forschungsgebiet.“

Der Autor fragt pflichtschuldig, ob dies Resultate eines Vollkommenheitsticks seien, „in dem jedes Gefühl für Maß und Proportion verlorenging?“ „Schönheitsavantgardisten müssten das schnell als Vorurteil entlarven, das auf ein traditionshöriges, starr fixiertes Menschenbild zurückgeht. Toledano hat Leute getroffen, die das Selbst als Kunstwerk begreifen und es zu formen suchen. Sind sie glücklicher, weniger glücklich als ihre schlaffhäutigen, faltenzerfurchten Zeitgenossen? Das weiß auch er nicht.“ Und letztlich läßt er uns mit dem Satz allein: „Die Schönheitschirurgie versucht, die Sterblichkeit umzukehren.“

Hans Holbein der Jüngere, Bildnis des Bonifacius Amerbach

Die Idee von der beliebigen Formbarkeit des Menschen lassen wir einfach einmal weiter unkommentiert, was aber fasziniert, ist, daß er sagt, ihn habe Hans Holbein der Jüngere inspiriert. Das mag so sein, wobei aber weniger an ein lebensvolles Bildnis eines Bonifacius Amerbach zu denken wäre als etwa an eines der Anna von Cleve. Formale Strenge und eine eher kühle Auffassung geben seinen Modellen in der Tat etwas von - Würde? “I wanted to make beautiful and distinguished portraits of these people. I wanted to represent a particular part of beauty from our time”. Wenn ich die Artikel recht verstanden habe, war das aber nicht immer unbedingt die Art von Aufmerksamkeit, die sie gewollt hatten. Wie auch immer.

Hans Holbein der Jüngere, Bildnis der Anna von Cleve

Dieser mir komplett unbekannten Seite entnehme ich das folgende nicht uninteressante Zitat: „It is interesting to imagine how the definition of beauty will change, and with it, the appearance of humanity.” Und darauf von Toledano selbst: “These are individuals who have transformed the way they look through radical reconstructive surgery to the point where they still look human, only a little less so.”

Wir versuchen tatsächlich, uns gerade in unserem Urteil zurückzunehmen. Ich korrigiere mich, das Moment des Überrascht-Seins wird gerade zurückgenommen. Nicht alles Denkbare ist von gleichem Wert und nicht alles Existierende gleich gültig. Eingeborene treiben Holzpflöcke durch ihre Unterlippen u.ä. und finden sich großartig dabei. Noch glaube ich, daß der Mensch aus dem Labyrinth seines Geistes und seiner Triebe zu etwas aufzusteigen vermag, das in seiner Natur bereits angelegt ist, aber auf seine Entfaltung wartet. Macht eine mutierte Natur im Kern einen Unterschied dabei? Macht es einen Unterschied, zu träumen wie Hieronymus Bosch oder aussehen zu wollen, wie eine seiner Kreaturen. Ja, der Unterschied hat die Ausmaße eines Grabens, dessen Grund sich im Dunkel verliert.

Hieronymus Bosch, „Der Garten der Lüste“, rechte Tafel

Detail, hier gefunden

Detail, hier gefunden

nachgetragen am 30. August

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