Sonntag, 8. Mai 2011

Misericordias Domini



Herr Roloff erwies mir den Gefallen, mir seine Predigt zum heutigen Sonntag Misericordias Domini zuzusenden. Dafür bin ich insbesondere aus zwei Gründen dankbar: Zum einen enthebt es mich der Pflicht, etwas zum heutigen Datum anzumerken, zum anderen fand ich in ihr einen bemerkenswerten Gedanken, den ich vorher noch nirgends gefunden hatte.

Bekanntlich verändert sich das Bild von Gott in der Bibel. Christen sehen sich daher schnell dem Einwurf ausgesetzt, dies sei doch ein offenkundiger Hinweis, wie sehr hier alles menschliche Projektion sei. Herr Roloff nun wendet die Perspektive und sagt, dieses Sich-verändern begleite die Menschwerdung Gottes. Oder mit meinen Worten, Gott nähert sich der menschlichen Natur an und verändert dabei zugleich diese und sich, faszinierend. Begleitet wird unser Text übrigens von Bildern, die einige Jahre zurückliegen.



Hes 34, 1-16.31

Der Friede des Auferstandenen sei alle Zeit mit euch!

Liebe Gemeinde,

der heutige Predigttext gibt uns die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einem der „Großen Propheten“ des Alten Testaments. Jesaja, Jeremia, Daniel und Hesekiel stehen in ihrer Vierzahl in einer gewissen Weise den vier Evangelisten des Neuen Testaments gegenüber. Hesekiel oder Ezechiel, wie er manchmal genannt wird, lebte im 6. vorchristlichen Jahrhundert, war Priester und gehörte zu den ersten Judäern, die nach der Eroberung Jerusalems und der Gefangennahme des Königs Jojachins in das Exil nach Babylon verschleppt wurden.

Es hat sich nun so gefügt, dass wir dieses Gedenken heute am 8. Mai begehen, dem Tag, an dem in Europa vor 66 Jahren der zweite Weltkrieg endete. Alle, die das erlebt haben, besitzen eine unauslöschliche Vorstellung davon, was Eroberung und Zerstörung und der anschließende Verlust der Heimat bedeuten. So erging es auch den Judäern, deren Prophet Hesekiel im Exil an den Wassern Babels geworden ist.

Mit machtvollen Worten geißelt er zunächst die „Götzenanbetung“ und die zahllosen Sünden seiner Landsleute, die nach seiner Überzeugung der tiefere Grund für die Niederlage und die Gefangenschaft waren.

Ist es nicht bedrückend, wie deutlich uns inzwischen die Tatsache gegenüber getreten ist, dass das zutiefst Abgründige und eigentlich Böse des nationalsozialistischen Regimes in seinem Heidentum und in seiner Götzenanbetung gelegen hat?

Es war den Judäern der Zeit Hesekiels nicht verständlich, dass sie ausgerechnet durch die Babylonier, die sie für Heiden hielten, geschlagen und letztlich vernichtet wurden. Jerusalem und der Tempel gingen unter, und die Spötter Jahwes triumphierten.

Ähnlich unbegreiflich war es vielen Deutschen nach 1945, dass nun ausgerechnet der Bolschewismus große Teile des alten christlichen Europas unter seine Herrschaft nahm und ganz und gar ungehemmt das im Krieg begonnene Zerstörungswerk langsam aber stetig vollendete.

Immer aber hat sich Gott in der Geschichte nicht als ein Herr über das eine oder das andere Volk erwiesen, sondern als Herr aller Reiche und Nationen. Darum steht nun auch weiter zu erwarten, dass der wahre Glaube an diesen einen Herrn uns aus dem Verwesungsgeruch der Ideologien, der noch immer über unserem Kontinent liegt, herausführt, und uns zur wirklichen vollkommenen Freiheit befreit, wie sie auch Hesekiel in der Gefangenschaft in Babylon erhofft und voraussagt, und wie sie nur in der Wahrheit dauerhaft gefunden und gegründet werden kann.

Ein bemerkenswertes Charakteristikum der Verkündigung Hesekiels ist in diesem Zusammenhang die innere Entwicklung, die Gott nimmt. Gott berichtigt sich und seine Gesetze, passt sie scheinbar einer neuen Zeit an.

Es heißt nun: „Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters, noch ein Vater die Schuld des Sohnes mittragen. Nur dem Gerechten kommt seine Gerechtigkeit zugute, und nur über den Gottlosen kommt seine Gottlosigkeit.“ Hes 18, 20.

Auch bekommt die Heilsverkündigung ein humanistisches Ziel, wenn Gott spricht: „Habe ich etwa Wohlgefallen am Tode der Gottlosen und nicht vielmehr daran, dass er sich von seinem Wandel bekehre und am Leben bleibe?“ Hes 18, 23

Ja, Gott selbst räumt tatsächlich Fehler ein: „So habe denn auch ich Satzungen gegeben, die nicht gut waren, und Gebote, durch die sie nicht am Leben bleiben konnten. Ich ließ sie unrein werden durch ihre Opfergaben, indem sie alle Erstgeburt durchs Feuer gehen ließen; ich wollte ihnen Entsetzen einjagen, auf dass sie erkennen, dass ich der Herr bin.“ Hes 20, 25-26

Die Spötter und Verächter der Religion haben das oft zum Anlass genommen, um den Nachweis davon zu führen, dass Gott ein auf menschlicher Grundlage ausgedachtes und nur abgebildetes Wesen ist. Für sie war ein Gott, der sich verändert, der sich weiterentwickelt, kein Gott mehr. Die Spötter und Verächter aller Zeiten wissen merkwürdiger Weise immer besser, wie Gott ist oder wenigstens, wie er sein müsste, um denjenigen hohen Ansprüchen zu genügen, die sie aufrichten, die doch nicht an ihn glauben.

Ich aber bin der festen Meinung, dass sich in diesen Prophetien Hesekiels eine Art Vermenschlichung Gottes ausdrückt, die in ihrem Kern ein früher Hinweis auf die Menschwerdung Gottes ist. Die Menschwerdung Gottes ist ein so umwälzendes Ereignis, dass sie Propheten in ihren Ahnungen schon lange erreicht hatte, bevor sie ganz offenbar wurde.



Dieser machtvolle und einzigartige Mann Hesekiel ist es nun, der uns unser Predigtwort zum Hirtensonntag „Misericordias Domini“ liefert.

Es ist eines der immer aktuellen Worte der Bibel, weil es sich an alle richtet, die Macht haben im Staat und in der Kirche, und die damit nach christlichem Verständnis das Hirtenamt ausüben, und die all ihr Tun ganz und gar auf das Wohl der Herde ausrichten sollen. Es liegt mir ganz fern, diese Sätze nun vordergründig zu popularisieren. Jeder soll sich seine eigenen Bilder vor Augen rufen und damit die Hirten der Gegenwart richten.

Ich will nur das wiederholen, was ich schon häufiger gesagt habe, und wovon ich überzeugt bin: Man kann als Mensch die Welt zum Guten nur verändern durch das Beispiel das man ihr gibt. Der Hirte ist dazu bestimmt, der Herde voranzugehen. Die Herde ist nicht der Schauplatz seiner eitlen Bedeutung.

Es ist Aufgabe des Hirten, die Einheit und den Zusammenhalt der Herde zu wahren. Es ist nicht gut, dass stets und überall sich Vereinzelungen, Parteien und Interessengruppen bilden, die gegeneinander streiten. Entscheidender ist immer, dass uns sichtbar und auch spürbar bleibt, was uns miteinander verbindet.

Zwei Motive sind für die Vorstellung vom Hirten und von der Herde maßgeblich.

1. Der Hirt hat keine Autorität aus sich selbst. Er ist Sachwalter desjenigen, dem die Schafe gehören. Er ist ihm verantwortlich. Er hat seinem Wort gehorsam zu sein, soll das Schwache stärken, die Kranken heilen, das Verwundete verbinden, das Verirrte zurückholen, das Verlorene suchen, was aber stark und fett ist soll er behüten und so die Herde weiden, wie es recht ist. In diesen 2.600 Jahre alten Worten ist alles ausgebreitet, was zu einem sozialen Gemeinwesen notwendig gehört und auch heute unter uns vollkommen unstrittig sein sollte.

2. Das Bild des Hirten und der Herde geht aber noch weit über die beinahe nur „landwirtschaftlich“ gedachten Zusammenhänge heraus. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen Hesekiels und unserer Erfahrungen, die sich mit dem 8. Mai 1945 verbinden, soll immer wieder daran erinnert werden, dass es Aufgabe aller Hirten ist, den Frieden zu wahren und die Herde behütet durch diese Welt zu führen und letztlich dem entgegen, der der eigentliche und ewige Hirte ist. Ohne den Glauben an den einen Guten Hirten gibt es gar keine guten Hirten, es gibt auch das Amt des Hirten nicht mehr. Ohne den Glauben an den einen Guten Hirten löst sich die Herde auf, verirrt sich, wird zerstreut. Die fortdauernde Zerstreuung des Volkes Israel in der Welt ist der eindrücklichste Beleg für die Folgen aus dem Fehlen dieses Glaubens.

Das Amt des Hirten im Staat und besonders natürlich in der Kirche hat nur dann einen wirklichen Gemeinschaft stiftenden Sinn, wenn es ein klarer Hinweis auf den Ewigen Hirten ist, der gesprochen hat: „Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.“

Amen

Der Friede des Auferstandenen, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, sei mit euch allen.

Amen
Thomas Roloff

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